Kafkas verstörende Phantasie

Der Geier

Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort. Es kam ein Herr vorüber, sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde. „Ich bin ja wehrlos“, sagte ich, „er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben, versuchte sogar ihn zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast zerrissen.“ „Daß Sie sich so quälen lassen“, sagte der Herr, „ein Schuß und der Geier ist erledigt.“ „Ist das so?“ fragte ich, „und wollen Sie das besorgen?“ „Gern“, sagte der Herr, „ich muß nur nachhause gehn und mein Gewehr holen. Können Sie noch eine Stunde warten?“ „Das weiß ich nicht“, sagte ich und stand eine Weile starr vor Schmerz, dann sagte ich: „Bitte versuchen Sie es für jeden Fall.“ „Gut“, sagte der Herr, „ich werde mich beeilen.“ Der Geier hatte während des Gesprächs ruhig zugehört und die Blicke zwischen mir und dem Herrn wandern lassen. Jetzt sah ich, daß er alles verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück um genug Schwung zu bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.

(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, Frankfurt/Main 2002, S. 329f.)


Kafka jätet Unkraut

Am Nachmittag des 3. Aprils 1913 stellt sich Franz Kafka in der Blumen- und Gemüsegärtnerei Dvorsky in Nusle, einem südlichem Stadtteil von Prag, vor, was durch einen Brief an Max Brod dokumentiert ist:

„[…] Ich würde heute kommen liebster Max, nur habe ich heute einen wichtigen Termin. Ich gehe nach Nusle und werde versuchen bei einem Gemüsegärtner auf der Nusler Lehne für Nachmittagsarbeit aufgenommen zu werden […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 152)

In der Gärtnerei gibt Kafka vor, durch diese Gelegenheitsarbeiten etwas über die Gärtnerei erlernen zu wollen, doch in Wahrheit sucht Kafka händeringend nach einer sinnvollen Beschäftigung, die ihm Bodenhaftung vermittelt. Kafka litt unter Neurasthenie, einer Modekrankheit zum Beginn des 20. Jahrhunderts, eine nervöse Schwäche, ein melancholischer Zustand, eine Erschöpfung vom Alltag, die insbesondere in der gehobenen Gesellschaftsschicht und unter Künstlern verbreitet war. Auch Rainer Maria Rilke, Egon Schiele und Robert Musil litten zur gleichen Zeit unter dieser depressiven Erkrankung, die man heute nicht mehr diagnostiziert.

Kafkas psychischer Zustand war im Frühjahr 1913 sehr labil und dies äußerte sich auch in körperlichen Leiden, er hatte ständig Kopf- und Zahnschmerzen, er litt unter Schlaflosigkeit und hatte Angst wahnsinnig zu werden. In seinen Briefen und Tagebucheinträgen finden sich seit dem Herbst 1912 immer wieder Selbstmordgedanken und die seltsamsten Phantasien, so schreibt er vorangehend im gleichen Brief vom 3. April 1913 an Max Brod:

„[…] Sonst hielte ich mich, wenn es schon nirgends sonst gieng, wenigstens am Bureau fest, wenn ich nur meiner Lust folgen würde und viele Hemmungen gibt es nicht, nicht besseres, als meinem Direktor mich zu Füßen zu werfen und ihn zu bitten, mich aus Menschlichkeit (andere Gründe sehe ich nicht, die Außenwelt sieht heute noch glücklicherweise fast nur andere) nicht hinauszuwerfen. Vorstellungen wie z.B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in die Ecke zuschiebe […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 152)

In der selben Nacht vom 3. auf den 4. April schreibt er an Felice Bauer

„[…] ich gehe in einer sinnlosen Wut und Verzweiflung herum, nicht vielleicht gegen meine Umgebung, gegen meine Bestimmung, gegen das was über uns ist, sondern nur und mit Wollust gegen mich, gegen mich allein […] vielleicht wird alles von übermorgen an besser, ich werde nachmittags bei einem Gärtner arbeiten, darüber schreibe ich Dir nächstens.“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 153f)

Nur vier Tage später kann Franz Kafka stolz von seiner körperlichen Tätigkeit an Felice Bauer berichten:

„Merkst Du an meiner Schrift, dass ich heute schon eine schwere Arbeit geleistet habe und der Federhalter für mich schon eine zu leichte Sache ist. Ja ich habe heute zum erstenmal beim Gärtner draußen in Nusle, einer Vorstadt, gearbeitet, im kühlen Regen nur in Hemd und Hosen. Es hat mir gut getan […] Mein Hauptzweck war mich für ein paar Stunden von der Selbstquälerei zu befreien […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 158)

Lange hielt es Kafka in dieser Gärtnerei nicht aus, denn am 30. April erfuhr er von der Gärtnerstochter eine Geschichte, die ihn erschreckte. Am 2. Mai 1913 trägt er in sein Tagebuch ein:

„Die Geschichte der Gärtnerstochter, die mich vorgestern in der Arbeit unterbrach. Ich, der ich durch die Arbeit meine Neurasthenie heilen will, muß hören, daß der Bruder des Fräuleins […] sich vor zwei Monaten im Alter von achtundzwanzig Jahren aus Melancholie vergiftet hat.“

(Franz Kafka, Tagebücher 1910 – 1923, Frankfurt/Main 1986, S. 222)

Welch Ironie! Dies ist die letzte Erwähnung der Gärtnerei Dvorsky. Kafka wird nie wieder darüber sprechen oder schreiben.


Das nervöse Zeitalter

Kafka lebte in einer nervösen Zeit und es gehörte in gehobenen Gesellschaftsschichten, besonders unter zahlreichen Künstler (Ludwig Kirchner, Egon Schiele, Robert Musil, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und viele andere), zum guten Ton von den dramatischen Änderungen in Technik und Gesellschaft derart überfordert zu sein, dass man überstrapaziert die Segel strich. Man ging zum Arzt und erhielt eine Diagnose wie Robert Musil, der laut Florian Illies im März 1913 zum Nervenarzt ging:

„Derselbe leidet an den Erscheinungen einer schweren Herzneurose: Anfälle von Herzklopfen mit jagendem Puls, Palpitationen beim Einschlafen, Verdauungsstörungen verbunden mit den entsprechenden psychischen Erscheinungen: Depressionszuständen und mit hochgradiger körperlicher und psychischer Ermüdbarkeit.“

(Florian Illies, 1913, 9. Auflage, Frankfurt/Main 2012)

Krankmeldungen wegen nervöser Leiden gehörten zum Praxisalltag der Allgemeinmediziner – diese Krankheit, von der man heute weiß, dass sie lediglich eine Modeerscheinung war, nannte man damals „Neurasthenie“, von der Otto von Hartleben in der Satirezeitschrift „Simplicissimus“ schrieb:

Raste nie,
doch haste nie,
sonst haste die
Eurasthenie!

Meyers Konversations-Lexikon in der vierten Auflage von 1888 notiert lediglich die Bedeutung des Fachbegriffs: „Neurasthenie (griech.) f. Nervenschwäche“ – mehr gab es damals noch nicht zu sagen, auch wenn die Erkrankung schon 1880 vom amerikanischen Nervenarzt George M. Beard erstmalig diagnostiziert wurde. Im deutschsprachigen Raum war sie noch nicht wirklich angekommen.
Doch um die Jahrhundertwende ändert sich das Tempo im alltäglichen Leben in Europa drastisch: durch die Eisenbahn rückten entfernte Orte zusammen und es fand ein steigender Reiseverkehr statt, die Städte wuchsen und in ihnen waren immer mehr Fussgänger plötzlich mit schnellen Automobilen und elektrischen Straßenbahnen konfrontiert, die die Pferdefuhrwerke immer mehr verdrängten, es wurden die ersten Metros eingebaut, es passierten die ersten Verkehrsunfälle mit Autos und auch Fahrrädern, die ersten Flugzeuge kreisten über die Himmel, Telefone und Telegramme ermöglichten eine „Echtzeitkommunikation“, die sensible Gemüter erheblich unter Druck setzten und Armbanduhren begannen die Taschenuhren zu ersetzen – was heute der permanente Blick auf das Handy ist, war damals der andauernde Blick auf die Uhr – der Zeitdruck wurde immer intensiver: nichts verpassen, nicht unpünktlich sein, seinen Tagesablauf optimieren. Das ist nicht weit von unserem aktuellen Erleben und den Folgen im Burnout entfernt.

Im Großen Brockhaus von 1932 wird die Neurasthenie schon ausführlicher beschrieben:

„Neurasthenie [grch. ‚Nervenschwäche‘], leichteste Form der durch äußere Schädigungen hervorgerufenen psychischen Störung […] Im Anschluss an Erschöpfung körperlicher und geistiger Art kommt es zu dem als N. bezeichneten psychischen Zustandsbilde […] Die Kranken sind reizbar, sie können ihre Tribe nicht beherrschen, brausen bei jeder Gelegenheit auf. Werden diese Kranken in eine völlig veränderte Umgebung gebracht, in der sie Ruhe haben und gut verpflegt werden, so pflegen die Symptome schon nach wenigen Tagen zu verschwinden.“

In der 258. Auflage des Psychrembel lesen wir über Neurasthenie keinen eigenen Artikel mehr, es wird hier auf dies Asthenie (Ermüdbarkeit und Kraftlosigkeit) und besonders die Neurosen von Freud verwiesen.

Sicherlich hat sich Florian Illies auch intensiv mit der Neurasthenie beschäftigt, denn er karikiert in seinem hervorragenden Zeitbild und lesenswerten Rückschau des Jahres 1913 immer wieder mit Sätzen wie „Appropos kränkelnd: Was macht eigentlich Rilke?“ und dem immer wiederkehrenden „Rilke hat Schnupfen“.

Franz Kafka war – wie gesagt – ein sensibler, nervöser Mensch und litt unter Neurasthenie, was er sich zum einen durch Konsultationen bei verschiedenen Ärzten bescheinigen ließ und zum anderen durch verschiedene Kuraufenthalte zu kurieren suchte. So besuchte er 1903 das Naturheilsanatorium Lahmann in Dresden, 1905 und 1906 die Wasserheilanstalt des Dr. Schweinburg in Zuckmantel in Schlesien, 1911 die Naturheilanstalt Fellenberg bei Zürich und 1912 die Musteranstalt für reines Naturerleben Jungborn im Harz – um nur einige zu nennen. In diesen Aufenthalten suchte Franz Kafka Erholung und Heilung seiner Nervosität, zum Teil mit Methoden, die heute recht seltsam anmuten. Zum Beispiel bestand die Therapie in der Musteranstalt für reines Naturerleben Jungborn aus allgegenwärtigen Nacktsein und Sonnenbaden und der heilenden Kraft der Erde, die mitunter auch gegessen wurde.

Seine Nervosität dokumentiert er an zahlreichen Stellen im Tagebuch, wie z.B. am 8. Dezember 1912 „ich bin nervöser, schwächer geworden“ oder am 21. August 1913 „Nervöse Zustände schlimmster Art beherrschen mich, ohne auszusetzen“ oder am 17. März 1915 „mit förmlich zerrissenen Nerven auf dem Kanapee gelegen“. Nicht nur die Kur- und Sanatoriumsaufenthalte sollten ihm Linderung verschaffen, auch sein tägliches Nacktturnen am offenen Fenster – man nannte es Müllern -, sein Fletschern, d.h. jeden Bissen, ja wirklich jeden Bissen, vierzigmal zu kauen, sein Vegetarismus, sein Schwimmen, all diese Tätigkeiten sollten seiner Gesundheit förderlich sein, auch der Versuch des Gärtnern, wie wir morgen lesen werden.

Ob es ihm wirklich half? Wir wissen es nicht, können es aber anhand seiner Biografie vielleicht eher bezweifeln. Aber vielleicht wäre er ohne all seine eigenen Gegenmaßnahmen noch neurotischer gewesen?


Annäherung an Kafka IV

Wie sich Kafka nähern, was von Kafka lesen? Die erste Lektüre von Kafka kann fesselnd oder abschreckend sein – was auch immer es ist, bleiben Sie dran. Vielleicht wollen Sie sich aber auch auf anderen, indirekten Wegen Kafka nähern – nach den ersten Tipps aus Januar, im Februar und im März nähern wir uns heute Kafka mit einer – vielleicht ersten – Kafka-Lektüre.

Viele potentielle Leser fragen nach eine Leseliste von Kafka und ebenso viele „Kafkakenner“ verweigern eine solche Auskunft oder verbindliche Liste als vermeintliche Unmöglichkeit – in diese Lücke quetscht sich mein heutiger Blogeintrag.

Hier also die ultimative Kafka-Leseliste für alle, die noch nichts von Franz Kafka gelesen haben:

  1. Lesen Sie die Sammlung von 4 Prosatexten „Ein Hungerkünstler„, z.B. enthalten in „Drucke zu Lebzeiten“ im Fischer Verlag.
  2. Lesen Sie das Romanfragment „Der Verschollene„.
  3. Lesen Sie die Erzählung „In der Strafkolonie“, z.B. enthalten in „Drucke zu Lebzeiten“ im Fischer Verlag.

Mit dem Hungerkünstler haben Sie einen kurzen, schnellen Einstieg in das Werk von Franz Kafka – eine Lektüre, die sich vermutlich vollkommen unvoreingenommen gestalten lässt, da wahrscheinlich nur wenige Ihrer Bekannten diese vier Texte kennen werden – Deutschlehrer eingeschlossen. Von den drei Romanfragmenten lesen Sie den, der sicherlich am wenigsten bekannt, gelesen und rezipiert ist und schließlich lesen Sie einen der Klassiker von Kafka, der die wenigsten Diskussionen in der Deutung ermöglicht. Alles in allem ermöglicht Ihnen diese Lektüre einen unbefangenen Blick auf Kafkas Werk.

Wenn Sie also tatsächlich noch keinen Text von Kafka gelesen haben, dann meiden Sie am Anfang unbedingt jene Texte, die allzu bekannt sind, wie „Das Urteil“, „Der Prozess“ oder „Die Verwandlung“ und lesen Sie schon gar nicht den „Brief an den Vater“. Denn zu all diesen Texten gibt es schon allzu viele Meinungen und möglicherweise werden Sie vor diesen Texten von Ihren Freunden und Bekannten geradezu gewarnt. Widmen Sie sich diesen Texten später.


Kafka kann Else Lasker-Schüler nicht leiden

Kafkas Werk und Leben ist oft mit dem Adjektiv „rätselhaft“ umschrieben – was natürlich auch die einfachste Beschreibung und Interpretation darstellt – aber es gibt einige wenige Momente in Kafkas Leben, die uns ein ewiges Rätsel bleiben. So zum Beispiel seine Aversion gegen Else Lasker-Schüler, die er in einem Brief an Felice Bauer am 12./13. Februar 1913 zusammenfasst:

„Und endlich war in dem gestrigen Brief von der Lasker-Schüler die Rede und heute fragst Du nach ihr. Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langeweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Großstädterin. Aber vielleicht irre ich da gründlich, es gibt viele, die sie lieben, Werfel z.B. spricht von ihr nur mit Begeisterung. Ja, es geht ihr schlecht, ihr zweiter Mann hat sie verlassen; ich habe 5 K hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben, ich weiß den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle sie mir immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 88)

Es ist ein Rätsel, woher diese Abneigung kommt, denn bis zu diesem Zeitpunkt ist Franz Kafka der Else Lasker Schüler kein einiges Mal persönlich begegnet und hat auch kein einziges Buch von ihr in seiner Bibliothek, zumindest führt Jürgen Borns beschreibendes Verzeichnis von „Kafkas Bibliothek“ keines auf. Das einzige Werk der Lasker-Schüler, das in diesem Verzeichnis von Kafkas Bibliothek enthalten ist, ist die zweite Ausgabe „Vom jüngsten Tag“ aus dem Jahr 1917, welches auch die Essays „Gesichte“ von Elke Lasker-Schüler enthält. Max Brod, Franz Werfel und Willy Haas standen in persönlichem Kontakt zu der außergewöhnlichen und extrovertierten Dichterin des Expressionismus und vermutlich haben sie sich auch mit Kafka über sie ausgetauscht und getratscht. Persönlich kannte er sie nicht und es gibt weder aus den Briefen noch aus den Tagebücher von Franz Kafka einen einzigen Beleg dafür, dass er sich mit Else Lasker-Schüler und ihren Gedichten auseinandergesetzt hätte.

Am Ostersonntag im Jahre 1913 begegnete Franz Kafka der Else Lasker-Schüler dann tatsächlich zum ersten Mal. Franz Kafka ist gerade in Berlin, war mit Felice Bauer im Grunewald spazieren, hat sich von ihr verabschiedet und hat noch einige Zeit bis zu seinem späten Abendzug nach Prag. Er trifft sich mit Otto Pick, Paul Zech, Albert Ehrenstein und auch Else Lasker-Schüler im Café Josty am Potsdamer Platz. Von diesem Treffen zeugt eine Postkarte an Kurt Wolff, die sowohl von Kafka als auch von Else Lasker-Schüler persönlich unterzeichnet wurde.

Weitere Details von diesem Treffen sind jedoch leider nicht überliefert.


Ein gesunder junger Mensch

Wer war Franz Kafka? Um diese Frage zu beantworten können wir nur zum einen auf die Aussagen des Menschen selbst – in seinen Werken, Briefen und Tagebüchern – und auf die Aussagen seiner Weggenossen zurückgreifen und finden so zwei widersprüchlich scheinende Bilder vor. Insbesondere im „Brief an den Vater“ zeichnet Kafka ein Bild von sich, das auch das allgemeine Bild in der belesenen Öffentlichkeit prägt. Kafka der Ängstliche, der Neurotische, der vom Vater Unterdrückte, der Schwache, der Kranke, der Verklemmte. Ein Bild, das möglicherweise falsch ist.

„Von irgendeinem Belastetsein durch zwanghafte düstere Jugendeindrücke, von Décadence oder Snobismus, die sich leicht als Auswege aus solcher Gedrückheit hätten anbieten können, von Zerknirschung der Seele war für den, der mit Kafka zusammentraf, nichts zu merken. Das, was in dem ‚Brief an den Vater‘ niedergelegt ist, schien nach außen hin nicht zu existieren – oder zeigte sich vielleicht nur andeutungsweise und nur bei sehr vertrautem Umgang. Ich lernte dieses Leid erst allmählich kennen und verstehen. Für den ersten Anschein war Kafka ein gesunder junger Mensch, allerdings merkwürdig still, beobachtend, zurückhaltend […] Ich habe es immer wieder erlebt, daß Verehrer Kafkas, die ihn nur aus seinen Büchern kennen, ein ganz falsche Bild von ihm haben. Sie glauben, er müsse auch im Umgang traurig, ja verzweifelt gewirkt haben. Das Gegenteil ist der Fall. Es wurde einem wohl in seiner Nähe.“

(Max Brod, Über Kafka, Frankfurt/Main 1958, Seite 41f.)

Auch wenn wir an zahlreichen Deutungen und Äußerungen von Max Brod über Franz Kafka heute zu recht zweifeln müssen – hierzu an späterer Stelle noch mehr – so ist Brods Bedenken gegenüber der Selbstschilderung Kafkas im „Brief an den Vater“ doch berechtigt.

Kafka selber hat an manchen Stellen betont, dass er sich literarisch überzeichnet und dass er zu Übertreibungen neige, so schrieb er an Felice Bauer am 13./14. Februar 1913:

„Siehst Du, ich verlange gar nicht, daß Du ins Schlimme übertreibst und die Übertreibung durchsichtig ist, so wie ich es – allerdings weniger aus Rücksicht auf Dich, als vielmehr infolge meiner Anlage – regelmäßig tue.“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999)

Und in einem Brief an Grete Bloch vom 18./19. November 1913 fragt er:

„Die Lust, Schmerzliches möglichst zu verstärken, haben Sie nicht? Es scheint mir für instinktschwache Menschen oft die einzige Möglichkeit Schmerz auszutreiben […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999)


Kafka im Ballett

Im Hessischen Staatsballett Wiesbaden feiert am 24.05.2024 das Tanzstück „Kafka“ von Antonio de Rosa und Mattia Russo seine Uraufführung. Das einstündige Stück ist eine Auftragsarbeit des Hessischen Staatsballetts anläßlich des Kafka-Jahres und ist eine besondere künstlerische Auseinandersetzung mit Leben und Werk von Franz Kafka.

Dies ist nicht die erste Tanzadaption in Bezug zu Franz Kafka. Schon im Jahr 2015 inszenierte der italienische Choreograf und Tänzer Mauro Bigonzetti Kafkas „Der Prozess“ in der Staatsoper Hannover als Tanzstück. Im Jahr 2017 wurde eine abendfüllende Kafka-Ballettinszenierung kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt und im tschechischen Pilsner Tyl-Theater wurde 2018 „Die Verwandlung“ als Ballett inszeniert – um nur einige wenige Beispiel zu nennen. Die Adaption von Kafka für das Ballett ist also nicht vollkommenes Neuland.

Was Kafka heute dazu denken und sagen würde, gehört in den Bereich der Spekulation, aber wir wissen, dass Kafka nicht nur ins Theater und Kino ging, sondern auch das Ballett besuchte. So sah er als 25-Jähriger im Mai 1909 das Gastspiel des kaiserlich-russischen Staatsballetts aus Sankt Petersburg, u.a. mit der Tänzerin Eduardowa (das Bild oben zeigt die Tänzerin um 1913), wovon einige seiner frühesten Tagebucheinträge zeugen:

„Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Czardas noch einmal tanzen. Sie hatte einen breiten Schatten oder Licht mitten im Gesicht zwischen dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns […]“

(Franz Kafka, Tagebücher, Erstes Heft)

Der Czardas ist ein wilder, volkstümlicher Tanz aus Ungarn und enthält viele improvisierte Elemente. Der große Brockhaus schreibt 1934: „[Er] wird von beliebig vielen, im Kreis aufgestellten Paaren ausgeführt. Er zerfällt in einen ruhigen mit gemessenen Bewegungen und einen heftigen, sich bis zu großer Leidenschaftlichkeit und Wildheit steigernden Teil.“ Von dieser Leidenschaftlichkeit wird Kafka durchaus angetan gewesen sein, wovon er auch noch Jahre später Felice Bauer berichten wird:

„[…] aber morgen ist das russische Ballet zu sehen. Ich habe es schon vor 2 Jahren einmal gesehen und Monate davon geträumt, besonders von einer ganz wilden Tänzerin Eduardowa.“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, Brief an Felice 17./18. Januar 1913)


Immerhin ein Büchertisch…

In einem solch großen, am Umsatz und der Masse orientierten „Bookshop“ würde man es vielleicht kaum erwarten, aber auch die Mayersche Buchhandlung am Neumarkt in Köln hat Dank des Engagements der Mitarbeiter einen Kafka-Büchertisch, der sich sehen lässt. Es findet sich eine gelungene Auswahl an Primär- und Sekundärliteratur mit zahlreichen persönlichen Empfehlungen, die einladen zu stöbern und vielleicht auch dazu verleiten, etwas Lektüre mit nach Hause zu nehmen.

Ich habe eine Weile an dem Büchertisch gestanden und es fanden einige Besucher den Weg zu diesem Tisch, stöberten und unterhielten sich über Kafka. Von Jung bis alt, Männer und Frauen, abgeschreckte Schüler und begeisterte Leser – alle waren vertreten. Das freut jeden Literaturliebhaber und Kafkafreund.


Kafka träumt

Heute erscheint im österreichischen Jung und Jung Verlag eine kommentierte Auswahl von Kafkas Traumtexten – zusammengestellt aus seinen Werken, seinen Briefen und den Notizen in den Tagebüchern – unter dem Titel „Kafka träumt„. Die 70 Traumtexte sind chronologisch gegliedert und ausführlich, informativ und fließend lesbar eingebetet in Kafkas Leben kommentiert.

Der Traum spielt in Kafkas Werke immer wieder eine Rolle: Protagonisten erwachen aus unruhigen Träumen, die Figuren kämpfen im oder mit dem Schlaf, sehnen ihn herbei und vieles scheint der Logik des Traumes zu entstammen. Auch der Leser fragt sich oft: ist es real oder träumt die Figur, die ich gerade lese? Ist dies nicht alles nur ein fürchterlicher Alptraum?

Es ist zwar nicht der erste Blick in Kafkas Traumwelt – diesen taten schon Gasparo Giudice und Michael Müller 1993 mit „Franz Kafka. Träume“ im Fischerverlag (basierend auf Giudices italienischen Titel „Sogni“ 1990) aber durchaus ein aktueller und – meines bisherigen Wissens nach – besser strukturierter und ausführlicher kommentierter Blick.


Vielleicht, vielleicht, vielleicht…

In seinem kurzen, nur 161 Wörter umfassenden, Text „Die Vorüberlaufenden“ aus den „Betrachtungen„, reiht sich das Wort „vielleicht“ achtmal aneinander. Dieser frühe Text, erstmalig 1908 im Hyperion gedruckt, ist schon typisch für Kafka. Es fängt unspektakulär an, alles scheint normal zu sein, doch dann ändert sich die Wirklichkeit abrupt, wenn auch hier nur anhand von acht unterschiedlichen Hypothesen. Gleichzeitig ist aber klar, bricht eine dieser Hypothesen in die Wirklichkeit ein, so ist nichts mehr wie es war, die Wirklichkeit ist gestört, den nächtlichen Spaziergänger erfasst daher eine ängstliche Unruhe.

Die Vorüberlaufenden

Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann, von weitem schon sichtbar – denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond – uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen.
Denn es ist Nacht, und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt, und überdies, vielleicht haben diese zwei die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide einen dritten, vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht will der zweite morden, und wir würden Mitschuldige des Mordes, vielleicht wissen die zwei nichts voneinander, und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen.
Und endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein getrunken? Wir sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehen.

(Franz Kafka, Betrachtung)